Als die »Histoire de la pensée chinoise« 1997 auf Französisch erschien, setzte sie sogleich Maßstäbe für eine schlüssige und zugleich umsichtige Darstellung der in der westlichen Philosophie oft nur bruchstückhaft bekannten, geschweige denn rezipierten chinesischen Philosophiegeschichte. Das Buch setzt ein mit der archaischen Kultur der Shāng und Zhōu im 2. Jahrtausend v. Chr. und behandelt in sechs Teilen die antiken Grundlagen des chinesischen Denkens (Konfuzius, Mòzǐ), die Zeit der Streitenden Reiche (Zhuāngzǐ, Menzius, Lăozǐ, Xúnzǐ, Legisten und kosmologisches Denken), die geistige Erneuerung während der HànDynastie, die buddhistische Umwälzung und anschließende Integration des Buddhismus in China, die Philosophie in der Zeit der Sòng und der MíngDynastien und schließlich die Entstehung des modernen Denkens. Auch wenn Cheng sich an den bekannten Schulen und Traditionslinien orientiert, berücksichtigt sie stets die Problematik, dass diese Schulen sich ihrem Selbstverständnis nach oft keiner Tradition zuordneten und Philosophiegeschichtsschreibung meist im Nachhinein konstruiert ist. Es gelingt der Autorin, unter enger Bezugnahme auf die jüngste sinologische Forschung den verschiedensten systematischen Aspekten des Philosophierens im traditionellen China gerecht zu werden — bei aller Eigenartigkeit, die diese Denkweisen in ihren Argumentationsstrukturen auszeichnet.